Wer in Hans Gysis Gedichte hineinsticht, wird alsbald von einem Strom von Worten fortgetragen, die, durch Klang und Bild verbunden, uns in eine farbenprächtige Welt entführen. Hans Gysi liebt die Musikalität der Sprache, geniesst den ›Groove und den Rhythmus‹, erfasst im tänzerischen Mitschwingen auch eine transzendente Dimension, eine Ahnung von Utopie. So kostet er die Sinnlichkeit der Wörter aus, würzt seine Lyrik mit ungewohnten Ausdrücken, manchmal Wortschöpfungen, bedient sich genau so locker beim gehobenen, pathetischen Stil wie bei der Umgangsprache und schreckt auch vor Häufungen nicht zurück. Im Gegenteil: Er nutzt sie, um einen rhetorischen Sog zu erzeugen, der in einem Höhepunkt kulminieren, aber auch abrupt in einer Pointe enden kann. Denn wie in barocken Gemälden neben aller Üppigkeit das Bild der Vergänglichkeit auftaucht, gehören bei Hans Gysi Skepsis, Ironie und Verkürzung als notwendiger Kontrapunkt zum wortgewaltigen Auftritt dazu. Sie lassen darin die Flüchtigkeit des Augenblicks erkennen, die Leere, die Raum für Sehnsucht schafft, aber auch Gelächter erzeugt.
Im Gedichtband Zettel und Litaneien wird dieser Kontrast Programm: in genussvollen Reihungen wird eine facettenreiche Welt heraufbeschworen, werden mit enzyklopädischem Eifer Bilder gesammelt, um im gleichen Atemzug deren Hinfälligkeit, ja Nutzlosigkeit festzuhalten. Mit Verve und Humor nimmt der Autor so unsere Verhaftung im Alltäglichen aufs Korn und lässt gleichzeitig dahinter die weiten Räume unserer Gedanken und Träume aufscheinen.
leben
mein leben ist gar nicht mein leben
es nimmt einen schrägen lauf
dreht ab hat viel drall
und spreizt sich spagatös
mein leben kommt nicht zusammen
wie der fluss mit dem meer
wie das tal mit dem hügel
nicht dass ich leide schön bunt und
mit hütchen kommts daher oder
quadratisch und abgespeckt
mein leben ist gar nicht mein leben
oft muss ich mich klein machen
damit ich hineinpasse
immer wieder springt der
deckel auf oder ein ellbogen
guckt raus eine unwirsche
bewegung ein rastloses
zucken oder sinds die
schritte die sich auf dem holzweg verlieren
So lustvoll kann Lyrik sein: Hans Gysi, Theaterpädagoge aus Märstetten, schlägt aus den trockenen Steinen des Alltags Funken. In seinen neuen "Zettel und Litaneien" geht er durch die Stadt und über Berge und überlegt, wie man gestriger und morgiger werden könnte oder wie viel Hornhaut es braucht, um endlich eine Pfote zu wagen. Leichte Texte auf schwere Gedanken.
Zettel: etwas Leichtes, das leicht wegflattert. Notizen, hingeworfene Einkaufszettel, Merkzettel, Wunschzettel, nummerierte Fresszettel, darunter auch ein alt chinesischer zettel mit bedenkswerten Weisheiten zum Verhältnis von Leere und Fülle. In seinen neuen Gedichten schreibt Hans Gysi Plädoyers für die Leichtigkeit, Kampfzettel gegen die Schwerkraft des Alltags. Mit supender sprachlicher Virtuosität, mit unvergleichlicher Bildphantasie und mit dem ihm eigenen Sinn für überraschende verbale Konstruktionen und Konstellationen. Mit dem Drive des Repetitiven, der den Leser sogleich in seinen Sprachsog hineinzieht. Die Zettel sind ihm stundenbücher der vergeblichkeit, sind ihm kleine helferlein bei gedächtnis- und realitätsschwund, sind die stöcklein an der hand durch den irrgarten der bekleidungsabteilung oder auch orientierungssysteme auf dem kriegspfad ins wochenende.
Unerschöpflich und unnachahmlich augenzwinkernd seine sprachlichen Hakenschläge, etwa wenn es in "zettel ", einem Merkzettel zum vielfältigen Wesen schlechter Gedichte, heisst: sind zu vernachlässigen sind weder / raffiniert noch zucker, oder wenn man in "gipfel" auf die folgende Strophe stösst:
und es schimmelt
zwieback aus kinder
krankheitstagen
und die glücklose
familiengeschichte
Oder wenn im Gedicht "leier" die abgestorbenen blechgesichter (nein, nicht "bleichgesichter"!) beschworen werden, die an ihrem schlüssel aufgezogen / so gleich / förmig tanzen.
Litaneien: Texte, die einem das Sprechen und Auswendiglernen leicht machen, Texte, die auf Wiederholung aufgebaut sind und dadurch mit ihrer Botschaft den Sprecher oder Leser sowohl einlullen als auch tief anbohren. Es sind Litaneien des Ungenügens, der Sehnsucht - wiederum - nach Leichtigkeit, einer, die sich mit ihrem variantenreichen Vokabular immer wieder subversiv einschleicht in die nicht selten von einer gewissen Schwermut gekennzeichneten Gedichte. Hans Gysi ist mit seinen poetischen Vorstössen ein kreuz- und querulant, wie es in seinem Gedicht «merkzettel» für jeden wachen Zeitgenossen gewünscht und gefordert wird. Eine Traurigkeit, oder genauer: ein leidenschaftliches Ungenügen an den alltäglichen Verhältnissen durchzieht diesen bemerkenswert dichten Gedichtband, aber Gysis Schalk, sein Sprachwitz und seine hohe Gewichtung, die er dem Zauberwort Hoffnung einräumt (denn du wanderst an ihrem Stab) machen dieses Buch nicht nur zur literarisch anspruchsvollen Lektüre, sondern gleichzeitig, lässt man sich nur mit Leib und Seele auf sie ein, zum reinen Lesevergnügen.